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"Hexen-Stadt", "Witch City", nennt sich die US-Kleinstadt Salem: Ende des 17. Jahrhunderts brach hier eine beispiellose Hexenjagd aus. Bis zu 200 Frauen wurden beschuldigt, verhört, gefoltert und hingerichtet in den "Hexenprozessen" von Salem.
Von Vanessa Loewel | 01.03.2017
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Noch heute sind in Salem viele davon überzeugt, dass Hexen unter ihnen leben. Die Kleinstadt im US-Bundesstaat Massachusetts pflegt ihre Geschichte - und ihre Mythen.
"Halloween ist so ein Moment, in dem diese eigentlich kleine, unbedeutende Stadt, das ist heute so eine Schlafstadt von Boston, aber einmal im Jahr entwickelt sich diese ganze Stadt in ein Hexenspektakel, Disney-artig”, sagt Jessica Gienow-Hecht. Die Professorin leitet die Abteilung Geschichte am John.-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien in Berlin.
Der Mummenschanz zeigt, wie stark die Menschen noch immer beschäftigt, was in Salem geschah:
Im Januar 1692 erleben die Siedler einen außergewöhnlich kalten Winter, sie haben mit einer Pockenepidemie zu kämpfen und mit Angriffen umliegender Indianerstämme. Da bekommen zwei Mädchen plötzlich seltsame Krämpfe: Sie winden sich auf dem Boden, scheinen Halluzinationen zu haben. Schließlich beschuldigen sie drei Frauen aus ihrer Gemeinde, sie verhext zu haben. Weitere Mädchen bekommen Anfälle, und auch sie denunzieren vermeintliche Hexen.
Dazu Jessica Gienow-Hecht:
"Ich glaube, dass die puritanische Gesellschaft wenig Raum ließ für junge Mädchen. Man kann vielleicht davon ausgehen, dass diese Kinder versuchten, Aufmerksamkeit zu erregen. Es ist möglich, dass sie gelogen haben, aber dann muss man sich als Historiker fragen, warum haben sie gelogen. Es ist eine Gesellschaft, die das einfordert, man hätte sie ja nicht ernst zu nehmen brauchen."
Vierjähriges Mädchen wird festgenommen
Der Glaube an Magie ist damals noch sehr präsent bei den puritanischen Siedlern. Sie sind davon überzeugt, dass sich der Teufel menschlicher Körper und Seelen bemächtigen kann.
Am 1. März 1692 werden die ersten Frauen als Hexen ins Gefängnis geworfen - die Prozesse beginnen. Eine Massenhysterie bricht aus: Sogar ein vierjähriges Mädchen wird festgenommen. Die Zahl der Beschuldigten steigt auf 200: in der Mehrzahl sind es Frauen. Vor allem, wenn sie alleinstehend und wirtschaftlich unabhängig sind, sind sie der patriarchalischen puritanischen Gemeinschaft verdächtig.
In öffentlichen Prozessen werden die vermeintlichen Hexen verhört, auch Folter wird eingesetzt: 19 Menschen werden verurteilt und gehängt.
Die Prozesse in Salem waren außergewöhnlich für die neuenglischen Kolonien. Hexenverfolgung gab es hier - anders als in Europa - eher vereinzelt. Wie konnte es zu einer solchen Hysterie kommen.
Dazu Nordamerika-Historikerin Jessica Gienow-Hecht:
"Wir sehen Hexenverfolgungen eigentlich immer in Gesellschaften, die sich durch große Angstempfindung auszeichnen, das heißt, Hexenverfolgungen treten häufig auf, wenn es ein ungelöstes Problem gibt in einer Gesellschaft, was unterdrückt wird und worüber nicht geredet wird."
Ein Kollektiv in rasantem Wandel
Ende des 17. Jahrhunderts verändert sich das Leben der puritanischen Siedler grundlegend: Die sehr gottesfürchtige Gemeinschaft entwickelt sich hin zu einer säkularen Gesellschaft. Als die Siedler zu Beginn des Jahrhunderts aus Europa nach Neuengland kamen, waren sie noch eine homogene Gruppe, mit ähnlichen Vorstellungen und Besitzverhältnissen. Nun tut sich eine Kluft auf: Zwischen den Farmern, die auf dem Land in frommen Gemeinschaften zusammenleben, und den weltlicheren Kaufleuten, die in den Städten an der Küste zu Reichtum gekommen sind. In Salem befeuert dieser Konflikt ein ohnehin spannungsgeladenes Nachbarschaftsverhältnid, so Jessica Gienow-Hecht:
"Es gab in Salem offensichtlich zwei einander nicht gut gesinnte Fraktionen, das eine waren die so genannten Wohlhabenderen, kommerziell orientierten Mitbewohner dieser Stadt, und das andere waren die so genannten Hinterlanders, die nicht richtig daran Teil gehabt haben an diesem plötzlichen wirtschaftlichen Erfolg. Und die Anschuldigung der Hexerei kommt aus diesem zurückgebliebenen Teil und die Zielgruppe liegt überwiegend in diesem anderen Teil."
Stoff für viele Romane und Filme
Ein halbes Jahr dauert der Wahnsinn in Salem: die Felder liegen brach, weil die, die sie versorgen sollen, als Hexen in den Gefängnissen sitzen - oder als Zuschauer in den Prozessen. Die Situation beruhigt sich erst, als der Gouverneur per Dekret die Prozesse beendet und die Beschuldigten freilässt.
Bis heute liefern die Hexenprozesse Stoff für unzählige Filme und Bücher, vom Horror-Roman eines Stephen King über das Theaterstück "Hexenjagd" von Arthur Miller bis hin zu einer Fernsehserie. Salem steht nicht nur für ein etwas mysteriöses, unerhörtes Ereignis der nordamerikanischen Geschichte, sondern auch symptomatisch für eine Gesellschaft unter Druck, die in Zeiten rasanten Wandels und großer Unsicherheit ihre Besinnung verliert.